Jubiläumsgrat - eine Winterbegehung

Jubiläumsgrat ... Klettersteig ... Zugspitze, davon hatte ich mir eine gewisse Vorstellung gebildet. So wie wenn man etwas weiß, aber nicht weiß, woher man es weiß.

November 1997: Den Jubiläumsgrat im Sommer zu machen, kam mir nicht in den Sinn. Da macht ihn doch jeder. Mit Thomas fahre ich nach Garmisch-Partenkirchen. Wir übernachten im Tal, erfahren in der Unterkunft, dass es ein grosses Fest auf dem Zugspitzplatt geben soll. Klasse! Am nächsten Morgen, es ist der 15., fahren wir zur Talstation der Eibsee-Seilbahn. Vor uns ein Bus. Den sollte ich noch überholen, wenn die auch alle nach oben wollen. Tja, vielleicht hätte ich vorher doch noch tanken sollen. Keine 50 m ist der Bus hinter uns und ich stehe am Fahrbahnrand. Mit einer Rückwärtswende geht es nun bergab und der Wagen springt wieder an. Auf flacher Ebene hätte der Sprit gereicht, aber bei Steigung scheint die Spritverteilung im Tank wohl etwas anders zu sein. Bis zur nächsten Tankstelle ist es dann auch kein Problem und wir erreichen im zweiten Anlauf die Seilbahn. Starkes Gedränge - nun wir hätten auch früher da sein können ...

Auf der Zugspitze angekommen, begeben wir uns zielsicher in die obere Etage des Seilbahngebäudes und legen letzte Ausrüstungsgegenstände an. Das Wetter sieht nicht so schlecht aus. Auf geht's. Ein kurzer Abstecher zum Gipfelkreuz und dann Richtung Alpspitze. Wir kommen an einen ersten Steilabstieg auf dem Grat. Zwei, drei Stangen, dann vereister Fels. Zögern. So schnell kann aus einem festen Entschluss ein Zweifeln werden. Hm, wozu haben wir das Seil mit? Ich sichere Thomas hinunter und etwas wieder hinauf bis zu einem Fixpunkt. Was sich jetzt mit einem Dutzend Worte sagen lässt, kostete bestimmt eine Dreiviertelstunde. Na ja, jetzt wird es bestimmt erst einmal wieder leichter. Ein Blick zurück zur Zugspitze, sie ist noch erschreckend nah. Bald geht es an den Abstieg in die Scharte vor der Inneren Höllentalspitze. Es ist bereits Mittag. Das Wetter sieht nicht mehr so gut aus. Es ist ziemlich warm geworden. Thomas trifft die kluge Entscheidung umzukehren. Ich kann mich nicht so schnell damit abfinden. Ich hatte eher daran gedacht, so weit zu gehen wie möglich, um dann zu biwakieren. Ich nehme Abschied. Der Anblick des Weiterwegs brennt sich mir ein. Schon oft kam das vor. Es ist immer wieder gleich. Ich kann nicht direkt umkehren. Der nächste Tag zeigt, dass die Entscheidung richtig war. Schlechtes Wetter, Regen im Tal, die Berge in Wolken und Schnee. Wir begnügen uns mit der Besteigung der Großen Arnspitze.

26 Monate später. Ich habe lange darauf gewartet. Die Idee lag mir immer im Hinterkopf. Jetzt sind die Bedingungen perfekt. Super Wetter für die nächsten beiden Tage. Lawinenstufe I. Drei Wochen kein Neuschnee. −11° am Eibsee. Ich warte auf die Gondel. Ein Mann tritt auf mich zu: "Willst Du den Jubigrat machen?" Ich bejahe und er fragt mich, was ich denn mit der Isomatte wolle. Den Grat könne man im Winter doch schneller machen als im Sommer. Der ganze Schutt wäre dann ja schneebedeckt! Typisch Bayer, ein Bergführer. Er bittet mich noch, ihn nach der Tour anzurufen, um ihm zu berichten, in welchem Zustand die Biwakschachtel sei. Wie nett ich doch bin!

Fast routinemäßig gehe ich in die obere Etage des Seilbahngebäudes, lege letzte Ausrüstungsgegenstände an und mache mich auf den Weg. Es sind schon welche unterwegs, die wohl etwas früher aufgebrochen sind. Die Fernsicht ist fantastisch. Es ist zwar kalt, aber für die Daunenjacke ist es mir dann doch bald zu warm. Ein seltsamer Kontrast: Du alleine auf dem Grat und unten siehst Du die ganzen Pistenskifahrer. Meist hört man irgendwelche Discomusik und ab und zu dringen fast noch verständliche Megaphon-Ansagen zu Dir. Ich komme an die erste Abstiegsstelle, wo wir damals gesichert hatten. Jetzt liegt viel mehr Schnee und es sieht einfacher aus. Ist es dann auch, zumindest nach den ersten Metern. Bis dahin versuche ich mich in verschiedenen Varianten. Tja, da klettert man in der Halle eine 8 und stellt sich hier doch wieder so blöd an. Gut, dass es niemand sieht. Vorbei ist der Übermut und das Gefühl ein toller Bergsteiger zu sein.

Jetzt geht es leichter weiter. Zeitweise sehe ich die Leute vor mir. Eine Dreiergruppe, sie ist ziemlich schnell. Und ein anderer Einzelgänger. Ich habe den Eindruck, dass ich ihn einhole. Wie ich später bemerken muss, ist das nur kurzfristig so.

Abstieg in die Scharte vor der Inneren Höllentalspitze. Das eingebrannte Bild kommt zur Deckung mit dem, was ich sehe. Jetzt kommt Neuland. Die Dreiergruppe macht eine Pause auf dem Gipfel und der Einzelgänger steht vor dem Gipfelaufbau. Es scheint nicht weit dorthin zu sein. Wie man sich täuschen kann. Mit den ganzen Grataufschwüngen dazwischen brauche ich so lange, dass ich in der Scharte erst 'mal eine Mittagspause mache. Dann geht es auf die Innere Höllentalspitze. Zuerst gibt es keine Sicherungen und es ist schon ziemlich steil. Nach einem Drittel des Aufstiegs fängt eine Drahtseilsicherung an. Doch um diese greifen zu können, muss man zuerst einmal eine kleine Kletterstelle meistern. Wenn man hier abschmiert, braucht man sich über die Empfangsmöglichkeit des Handys wohl keine Gedanken mehr machen. Soll ich hier aufgeben? Wieder umkehren? Ich suche mit den Händen verschiedene Möglichkeiten. Eigentlich nicht so schwierig. Wahrscheinlich ist es so 'was wie eine III-. Wenn's da nur nicht so runter gehen würde. Mein Stolz verlässt mich und ich werfe eine Schlinge zur ersten Sicherung. Es bedarf einiger Versuche und dann kann ich mich sicher fühlen. Eine gemeine Stelle - denke ich. Besonders, wenn man den Grat in umgekehrter Richtung geht, zumal sie von oben wenig einsehbar ist. Ich mogele mich ziemlich langsam auf den Gipfel. Die Höllentalgrat-Hütte ist nicht zu sehen. Auch meine Spurbereiter sind nicht mehr auszumachen. Die Alpspitze noch so weit und die Zugspitze noch so nah. Na ja, weiter! Das Wetter ist super und zur Not mache ich mir mit meiner Schneeschaufel ein schönes Biwak. Doch eine leichte Nervosität kann ich nicht leugnen.

Inzwischen ist die Bergeinsamkeit da. Von dem Skibetrieb ist nichts mehr zu hören und zu sehen. Es ist windstill. Keine Wolke am Himmel. Die folgenden Gratabschnitte schocken mich nicht mehr. Ich halte immer wieder Ausschau nach der Hütte. Einmal glaube ich, sie zu sehen. Ich erreiche die Mittlere Höllentalspitze. Das Licht wird wärmer und die Luft kälter. Ich sehe die Biwakschachtel. Eine gewisse Erleichterung verspüre ich nun doch. Obwohl es eigentlich auch schön gewesen wäre, im Schnee zu übernachten. Ich gönne mir die Zeit, ein paar Fotos zu machen. Ich überlege, ob es mir lieber ist, dass die Leute in der Biwakschachtel sind oder, dass ich alleine da sein werde. Etwa eine Viertelstunde vor Sonnenuntergang erreiche ich meine Unterkunft für die Nacht. Ich öffne die Tür. Niemand da. Bei einem Blick ins Innere ist mir plötzlich lieber, dass ich alleine bin.

Ich nehme mir jetzt die Zeit für den Sonnenuntergang. Er ist traumhaft schön. Ich werde plötzlich sehr traurig, denke an meine große Liebe, die mit mir hier sein könnte, die aber nicht mit mir sein möchte. Etwas Zeit vergeht. Das letzte Stückchen Sonne hinter einem fernen Grat fange ich mit meiner Kamera ein. Jetzt muss ich Schnee schmelzen. Die Traurigkeit weicht.

Der Kocher faucht. Wechselnd hole ich Schnee, gieße Wasser in meine Trinkflaschen und beobachte das Fortschreiten der Dämmerung. Ein paar Schritte oberhalb der Hütte kann man vom Grat nach Garmisch-Partenkirchen hinunterschauen. Wieder kommen zwei Bilder zur Deckung. Ich hatte genau diesen Anblick wenige Tage zuvor in einem Buch gesehen. Die Straßenbeleuchtung scheint durch eine dünne Wolkendecke hindurch. Ich versuche einige Fotos. Wenn ich in die Hütte komme, scheint es deutlich wärmer zu sein. Zumindest im ersten Moment. Das Eis auf dem Boden und den Lagern rückt diese Beobachtung zurecht. Später esse ich ein Nudelgericht. Lese im Hüttenbuch. 14 Leute, steht da, hätten hier einmal gleichzeitig übernachtet. Ich zähle ab, wo sie wohl gelegen haben. Da! Ein Eintrag von Hans Kammerlander und Reinhold Messner. Hans schreibt, Reinhold klagte über Phantomschmerzen in den Zehen und sie hätten deshalb sehr viel sichern müssen. Ich muss laut lachen.

16. Januar 2000: Eine Dreiviertelstunde vor Sonnenaufgang klingelt mein Wecker. Schnell angezogen. Ich trete aus der Hütte. Etwa 1000 m unter mir liegt eine dicke Wolkendecke. Nur die Gipfel ragen heraus. Ich stapfe zum Grat hinauf, um nach Norden zu schauen. Ich bin einen Moment erschrocken. Die Welt ist weg, denke ich, ohne den Satz zu denken. Ganz Deutschland unter einer gleichmäßigen Wolkendecke. Keine Spur irgendeiner Zivilisation.

Über dem Kocher taue ich meine festgefrorenen Gamaschen auf. Alles dauert wieder länger als gedacht. Der Sonnenaufgang kündigt sich mit einer hell leuchtenden Wolkenzeile am Horizont an. Bestimmt wird der zweite Tag leichter, denke ich.

Hinter der Hütte geht es auf einen kleinen Gipfel und dann weiter auf die Äußere Höllentalspitze. Der Grat sieht fantastisch aus. Wie im Bilderbuch. Eine Spur ist vorgezeichnet und hilft die Dimensionen zu erkennen. Eigentlich wäre es so schön. Aber ich muss da lang! Inzwischen bin ich schon etwas abgebrühter und gehe einfach immer weiter. Im Nachhinein kann ich die vielen Grataufschwünge und Zwischenabstiege nicht mehr zeitlich einsortieren. Zwischendrin ist der Grat einmal so schmal und ausgesetzt, dass mich doch der Mut verlässt und ich mich setze. Ein Bein ins Reintal, das andere ins Höllental. Einen Moment denke ich daran, nicht mehr weiterzugehen. Aber ich könnte nicht einmal den schweren Rucksack abnehmen, um das Handy herauszuholen. Er würde in das eine oder andere Tal fallen. Wofür mache ich das eigentlich?! Nie wieder eine Bergtour! Welch ein Luxus auf ebener Fläche stehen zu dürfen! Dann bin ich wieder gefasst, stehe auf und balanciere weiter. Gut, dass es so wenig Wind hat. Später ärgere ich mich, dass ich an dieser Stelle kein Foto gemacht habe. Das ist immer so - an den ernsteren Stellen verbieten mir Respekt und Angst das Fotografieren. Ich wäre kein guter Fotojournalist.

Immer wieder 'rauf und 'runter, 'runter und 'rauf. Wechselnd mit Sicherungen und ohne. Ich nähere mich dem Hochblassen. Zu Hause hatte ich 'mal daran gedacht, diesen Gipfel noch mitzunehmen. Jetzt hoffe ich nur, dass ich schnell daran vorbeikomme. Schließlich quere ich den Vorgipfel und komme zügig vorwärts. Ein erleichternder Anblick eröffnet sich: Die Grießkarscharte unter mir und ein völlig überschaubarer Grat auf die Alpspitze. Ich sehe einige Leute auf dem Alpspitz-Gipfel. Unterwegs dahin kommen mir zwei von ihnen mit Ski am Rucksack entgegen. Sie fragen mich, ob ich den Jubigrat gemacht hätte. Stolz kann ich berichten. Überhaupt fragt mich fast jeder, den ich ab jetzt bis zur Seilbahnstation auf dem Osterfelderkopf treffe, ob ich den Jubigrat gemacht hätte und wie es gewesen wäre.

Am Mittag auf dem Gipfel der Alpspitze blicke ich zurück den Grat entlang zum Zugspitz-Gipfel. Er sieht so nah aus und aus dieser Perspektive verschwinden die ganzen Grataufschwünge. Dafür hast Du so lange gebraucht? Trotzdem bin ich ein wenig stolz. Doch erst kommt noch der Abstieg über die Ferrata, der auch noch etwas Vorsicht erfordert. Die letzten Meter stapfe ich über die planierte Piste, ein letztes Foto von der Alpspitze, dann geht's mit der Seilbahn 'runter und mit der Zahnradbahn zurück zum Auto am Eibsee. Erst in der Unterkunft unter der Dusche bin ich plötzlich sehr glücklich.

Zwei Wochen später. Es regnet. Eigentlich sollte ich laufen gehen. Die nächste Tour ist schon geplant. Ich schreibe diesen Bericht. War es wirklich manchmal so schlimm gewesen? Die Erinnerungen relativieren sich. Ich denke an andere Bergtouren, die mich auch Nerven gekostet haben. Fest steht jedenfalls für mich, dass die Schwierigkeiten an einem winterlichen Jubiläumsgrat ziemlich anhaltend sind. Und das Fehlen eines Begleiters erleichtert die psychische Komponente nicht gerade. Andererseits hätte ich aber auch keinen Unerfahreneren zu dieser Unternehmung mitnehmen wollen. Das ließ mich vor der Tour besser schlafen.

Hinweise:

Daniel Roth, 30. Januar 2000